Viel zu oft „über uns ohne uns“!
Ob bei der Entstehung des Bundesteilhabegesetzes oder jüngst des Triage-Gesetzes – (echte) Partizipation behinderter Menschen findet in der Politik kaum statt. Dass es sich dabei um ein strukturelles Problem und kein Versehen handelt, zeigte Frau Lilit Grigoryan in ihrem Gastvortrag für die BODYS-Veranstaltung „Die Rolle von Behindertenorganisationen an Gesetzgebungsprozessen und Strategic Litigation“ am 14.12.2022. Lilit Grigoryan (Akademie für Europäischen Menschenrechtsschutz der Universität zu Köln) promoviert derzeit zur rechtlichen und politischen Anwendung der UN-Behindertenrechtskonvention in den europäischen Mitgliedsstaaten.
Mit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention verpflichtete sich Deutschland, Menschen mit Behinderungen in alle sie betreffenden politischen Prozesse aktiv einzubeziehen (Art. 4(3) UNBRK, siehe dazu auch Disability Studies Review Nr. 1). Im Vergleich zu Österreich und Dänemark etwa, so zeigte Lilit Grigoryan in ihrem Vortrag, haben sich Voraussetzungen für die Partizipation behinderter Menschen in Deutschland seitdem durchaus verbessert. Das gilt insbesondere auf Bundesebene und in Bereichen, die behinderte Menschen direkt betreffen. Anders sieht es auf Landesebene aus. Hier bestehen gravierende Mängel in den Beteiligungsverfahren und auch in den Finanzierungsstrukturen. Gleiches gilt für Verfahren, die behinderte Menschen indirekt betreffen. Frau Grigoryan führte etwa die Bildungsgesetzgebung an, wo die Beteiligung von behinderten Menschen sich meist auf den*die Landesbehindertenbeauftragte erschöpfe. Das entspricht keineswegs einem erforderlichen Maß an Repräsentation und Partizipation, wie von der UNBRK gefordert.
Politische Partizipation bedeutet aber auch, effektive Möglichkeiten zur Rechtsdurchsetzung zu haben. Das war Gegenstand des zweiten Teils des Vortrags. Sowohl auf internationaler, europäischer wie nationaler Ebene stehen Verfahren und Vorschriften zur Inanspruchnahme von Rechten etwa durch Klagen bereit. Allerdings machen Behindertenorganisationen davon selten Gebrauch. Hauptursachen, so Frau Grigoryan, seien mangelnde Barrierefreiheit von Gerichten, gerichtlichen Verfahren und Informationen einerseits und kaum vorhandene Ressourcen und juristisches Fachwissen in den Behindertenorganisationen andererseits. Zudem fehle es auch auf Seiten der Behindertenorganisationen selbst an Anerkennung von behinderten Menschen als Rechtssubjekte – also dem Bewusstsein, Rechte zu haben und diese einfordern zu dürfen. Diese Erfahrung bestätigten dann auch Teilnehmende der Veranstaltung in der anschließenden Diskussion.
Strategische Prozessführung, da waren sich Lilit Grigoryan und Veranstalterin Prof. Dr. Theresia Degener einig, sind eine sehr gute Möglichkeit, Mittel der Rechtsdurchsetzung bekannt zu machen und auf Basis der so gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse die Behindertenorganisationen zu ermutigen und deren Kooperationen auf Landes- und Bundesebene zu stärken. Prof. Degener verwies hier beispielhaft auf zwei strategische Prozessführungen, an denen BODYS beteiligt war bzw. ist (siehe Klage vor dem Landesverfassungsgericht Berlin und Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zum Sorgerechtsentzug). Anhand jedes untersuchten Einzelfalles könnten – unabhängig vom eigentlichen Erfolg des Prozesses – strukturelle Missstände in Bezug auf die Rechte von Menschen mit Behinderungen aufgedeckt werden. Das sei ein großes Potenzial, dass es in Zukunft verstärkt zu heben gelte.
Die Veranstaltung fand im Rahmen der Lehrveranstaltung „UN Behindertenrechtskonvention“ von Prof. Dr. Theresia Degener & Franziska Witzmann an der EvH RWL und via Zoom statt.