Literary Disability Studies

Vortragsreihe „Dis/Ability der Gegenwart und der Zukunft“

Mit einem Beitrag zu „Literary Disability Studies“ hat das Bochumer Zentrum für Disability Studies BODYS am 1. Juni 2023 seine beliebte Online-Vortragsreihe „Dis/Ability der Gegenwart und der Zukunft – Perspektiven der Behindertenbewegung und der Disability Studies“ fortgesetzt. Zu Gast waren Juniorprofessor Dr. Klaus Birnstiel von Universität Greifswald und Chris Klän, wissenschaftlicher Mitarbeiter der EvH RWL.

Von der Motivgeschichte zu den Literary Disability Studies

„Alles, was es in der Welt gibt, gibt es auch in der Literatur, meist auch ein bisschen mehr. (...) Indem sie die Dinge und Menschen in der Welt immer wieder aufs Neue darstellt, kann sie auch dabei helfen, unsere Vorstellungen von der Welt und den Menschen in der Welt zu hinterfragen und zu verändern. Das gilt auch im Zusammenhang mit Behinderung und ihrer Darstellung in der Literatur.“ Mit diesen Worten eröffnete Klaus Birnstiel seinen Vortrag „Von der Motivgeschichte zu den Literary Disability Studies: literarische Figuren mit Behinderung lesen“ und erklärte, warum aus seiner Sicht die Auseinandersetzung mit Literatur ein lohnender Zweig der Disability Studies ist.

Birnstiel näherte sich dem Thema zunächst historisch und zeigte am Beispiel des – durchaus kritisch zu betrachtenden – Behindertenpädagogen Hans Würtz, wie vor etwa 100 Jahren versucht wurde, literarische Darstellungen von behinderten Menschen auf wissenschaftliche Weise zu sammeln und einzuteilen. In seinem Werk „Zerbrecht die Krücken“ (1932) listet Hans Würz umfangreich (zumeist männliche) Schriftsteller und literarische Figuren auf und zeigt damit, dass behinderte Menschen in der (Welt-)Literatur keineswegs nur Randfiguren sind. Dies sei als Verdienst von Würtz anzuerkennen, so Birnstiel, sein wissenschaftlicher Zugang der Motivgeschichte aus heutiger Sicht sei jedoch nicht ausreichend – denn er verharre deskriptiv bei der Frage, in welchen Werken das Motiv Behinderung zu finden sei.

Behinderung als „narrative Prothese“

Literary Disability Studies gehen darüber hinaus und fragen: Auf welche Weise wird Behinderung erzählt und gestaltet? Welche Funktion hat Behinderung in einem literarischen Text? Wie hängen Literatur und Gesellschaft zusammen? Welche kulturellen Vorstellungen und Denkmuster spielen eine Rolle? Und schließlich: Welche anderen Aspekte wie Geschlecht, Herkunft, race oder Alter sind in der Analyse zu berücksichtigen?

Beispielhaft analysierte Birnstiel in seinem Vortrag Thomas Manns Erzählung „Der kleine Herr Friedemann“ (1897) und Sibylle Bergs Roman „Vielen Dank für das Leben“ (2012). In beiden Werken ist Behinderung kein isolierter Gegenstand, sondern eingewoben in viele andere gesellschaftliche Fragen wie vergeschlechtliche Rollenerwartungen, gesellschaftliche Ansprüche, Identität sowie Fragen des Künstlerischen und Ästhetischen. Behinderung fungiert dabei als „narrative Prothese“ (Snyder & Mitchell 2000): Die Erzählung braucht die Behinderung, um die Geschichte überhaupt erzählen zu können.

Intersektionalität als Methode

In seinem Ko-Referat zu „Intersektionalität als Methode“ griff Chris Klän die Frage nach genau jenen „Verwobenheiten“ auf. Im Sinne eines Brückenschlags in die Sozial- und Gesundheitsberufe hinein, war es Kläns Anliegen zu klären, wie man von der Analyse schließlich in das Handeln im Sinne von Intersektionalität hineinkommen kann. Einen ersten Anknüpfungspunkt fand Klän in der Entstehungsgeschichte des Konzepts Intersektionalität: Es wurde in den1970er Jahren aus der Analyse ihrer spezifischen Unterdrückungserfahrungen von Schwarzen Frauen entwickelt und mündete in die Forderung nach einer dominanzsensiblen Politik. Davon ausgehend zeigte Klän die Begrenztheit von sogenannten „single issue politics“ (u.a. Gender, Rassismus, Behinderung) und darauf basierenden Professionen, die zwangsläufig jeweils nur eine Ungleichheitsdimension adressieren (können). Klän stellte fest, dass es durchaus ein gegenseitiges Bewusstsein über verschiedene Identitäten und Ausschlusserfahrungen gebe, dass die Auseinandersetzung damit aber zu oft noch einem Gegeneinander-Ausspielen der Bedürfnisse münde. Ganz im Sinne von Aurora Levins Morales (2015) plädierte Klän dafür, Intersektionalität im eigenen Handeln mit- und die Ziele entsprechend weitzudenken: „When two legitimate needs seem to be in conflict, neither side is asking for enough“ – Wenn zwei legitime Ansprüche im Konflikt zu stehen scheinen, verlangt keine der beiden Seiten genug.

Über die Vortragenden

Jun.-Prof. Dr. Klaus Birnstiel (Universität Greifswald) studierte Neuere deutsche Literatur, Neuere und Neueste Geschichte sowie Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wurde dort 2012 promoviert, anschließend war er mehrere Jahre Assistenz im Deutschen Seminar an der Universität Basel. Seit 2018 ist er Juniorprofessor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Greifswald. Darüber hinaus ist er seit diesem Jahr Sprecher des DFG-Netzwerks "Inklusive Philologie. Literary Disability Studies im deutschsprachigen Raum".

Chris Klän ist seit 2022 wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in für Internationalisierung und Digitalisierung an der Evangelischen Hochschule RWL. Chris Klän hat sein Studium in Maastricht und London im Bereich Kulturwissenschaften und postkoloniale Studien absolviert und lehrt zu den Bezugsverhältnissen zwischen Identität, Körper, Macht und Verletzlichkeit.

Einen Videomitschnitt der Vorträge finden Sie im YouTube-Kanal von BODYS.

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