Interview mit BODYS-Gast Anthony Giannoumis

Von links: Prof. Dr. Theresia Degener, Anthony Giannoumis, Prof. Dr. Jan Friedemann (Pro-Rektor); © Angelique Arns

Anthony Giannoumis arbeitet derzeit als Associate Professor am “Oslo and Akershus University College of Applied Sciences (HiOA)”. Er ist Spezialist für Universelles Design (UD) in der Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT). Während seines Aufenthaltes an der EvH und bei BODYS im Juni 2017 konnten wir mit Anthony über seine Arbeit sprechen.

BODYS: Wenn man im Internet über Ihre Arbeit recherchiert, so scheint diese sehr von technischen Aspekten bestimmt zu sein. Wo sind die Verbindungen zu den Sozialwissenschaften, wo zu den Disability Studies?

Giannoumis: Meine Herkunft ist tatsächlich sehr technisch geprägt. Ich habe 20 Jahre in ICT-Bereichen gearbeitet. Doch in meiner akademischen Tätigkeit bin ich den Sozialwissenschaften sehr verbunden und in Bezug auf die Disability Studies habe ich mich mit der Zugänglichkeit des Internets befasst, vor allem der politischen Dimension der Zugänglichkeit, beispielsweise der Umsetzung von gesetzlichen Regelungen in die Praxis.

BODYS: Das Konzept des Universellen Designs ist in Deutschland nicht sehr verbreitet, obgleich es in der UN Behindertenrechtskonvention verankert ist. Was genau ist das Ziel von Universellem Design und was kann die Evangelische Hochschule unternehmen, um die Forschung auf diesem Gebiet zu intensivieren?

Giannoumis: Oh, das ist eine sehr herausfordernde Frage. Also, die Vereinten Nationen definieren Universelles Design etwa folgendermaßen, wenn ich das richtig im Kopf behalten habe: Es geht um das Design von Produkten und Dienstleistungen in der Weise, dass sie von allen Menschen möglichst weitgehend ohne eine Anpassung oder ein spezielles Design genutzt werden können. Das schließt Hilfsmittel für bestimmte Gruppen von Menschen mit Behinderungen, soweit sie benötigt werden, aber nicht aus.

Das Ziel von Universellem Design ist aus meiner Sicht also eine fundamentale Gleichheit. Das heißt, Technologie muss von allen Menschen gleichermaßen genutzt werden können. Wir schauen also weniger auf die jeweiligen Fähigkeiten der Personen, sondern auf die Strukturen der Technologie. Der Begriff der “Usability”, also der Nutzbarkeit, ist dabei zentral. Bei uns an der Universität Oslo arbeiten wir daran, den Begriff der Usability zu operationalisieren und wir haben dazu drei Kriterien herausgearbeitet: “Effectiveness, Efficiency und Satisfaction”.

Zum zweiten Teil der Frage: Was die Evangelische Hochschule zuerst tun könnte, ist, Universelles Design auf die Forschungsagenda zu setzen und dabei sind alle Disziplinen herausgefordert. Es muss deutlich werden, dass Universelles Design zu Barrierefreiheit, zu selbstbestimmtem Leben und zu allen Aspekten von Disability Rights gehört. Universelles Design und Barrierefreiheit könnte man auch als Tandem bezeichnen. Für eine Hochschule könnte Universelles Design auch eine Strategie sein, etwa bei der Entwicklung von Lehrmaterialien – und es kann strategische Vorteile für eine Hochschule bedeuten, die sich dem Universellen Design verschrieben hat.

BODYS: “Digitalisierung 4.0” ist in Bezug auf die Arbeitswelt ein Schlüsselbegriff in Deutschland. Wird die Digitalisierung einen Schub in Sachen inklusiver Arbeitsmarkt auslösen können?

Giannoumis: Zunächst sehe ich es im Prinzip als Fortschritt an, wenn körperlich anstrengende Tätigkeiten durch Computer ersetzt werden können. Die Herausforderung besteht jedoch in Folgendem: Das Vorantreiben der Digitalisierung ist in der Regel nicht von den Prinzipien des Universellen Designs geprägt, sondern unter Kostendämpfungsaspekten. Ich bin der Meinung, dass Anstrengungen zur Digitalisierung unbedingt auch Anstrengungen zur Partizipation erforderlich machen. Deshalb müssen viele Personen, auch mit Behinderungen, einbezogen werden, wenn es darum geht, eine inklusive Arbeitswelt zu schaffen.

BODYS: Ein weiteres Schlüsselwort ist “Ambient Assisted Living (AAL)”, das in der Regel mit einer älter werdenden Bevölkerung in Verbindung gebracht wird. Meines Erachtens ist AAL schon für diese Personengruppe schwer zu bedienen. Wenn wir nun Menschen mit Lernschwierigkeiten oder kognitiven Beeinträchtigungen in den Fokus nehmen – wie kann Universelles Design dabei helfen, vorhandene Komplexität zu reduzieren?

Giannoumis: Es besteht meiner Meinung nach eine starke Verbindung von Alterungsprozessen und kognitiver Beeinträchtigung, wenn wir etwa Demenz oder Alzheimer betrachten. Wie kann Universelles Design hier helfen? Universelles Design ist ja zunächst nur ein normativer Rahmen, der einer Operationalisierung bedarf. Wir müssen also etwas tiefer gehen und uns die Barrieren ansehen, die Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen bei der Nutzung von AAL-Lösungen vorfinden und dabei stellen wir fest, dass wir nicht genug über solche Barrieren wissen. Damit müssen wir uns zunächst befassen, mit den Barrieren, die im Zusammenwirken von Alter und kognitiver Beeinträchtigung bestehen.

BODYS: In der Europäischen Union wird derzeit über einen “European Accessibility Act (EEA)” zur Barrierefreiheit debattiert. Stimmen Sie dem Inhalt dieses Gesetzesvorhabens zu?

Giannoumis: Ich habe mich zwar noch nicht intensiv mit dem Gesetz befasst, gleichzeitig bin ich aber etwas radikal in meinen Ansichten: Kein Gesetz war bislang weitreichend genug, wenn es um die umfassende Partizipation von Menschen mit Behinderungen ging. Jede gesetzliche Regelung kann deshalb nur einen weiteren Schritt nach vorne bedeuten. Ob dieser Schritt groß genug ist, mag ich nicht beurteilen. Es gibt auch Kritik an diesem Gesetz, etwa vom Europäischen Behindertenforum oder anderen Disability-Rights-Aktivisten – ich stimme ihnen zu.

BODYS: Wie sehen aus Ihrer Perspektive die zentralen Herausforderungen für Universelles Design in den nächsten zehn Jahren aus?

Giannoumis (seufzt): Oh mein Gott, da gibt es so viele! Universelles Design ist eine unglaubliche Idee, weil es eine wirkliche soziale und technische Herausforderung ist. Ich glaube, dass zehn Jahre lange nicht genug sind, um Universellem Design wirklich näher zu kommen. Wir können schon froh sein, wenn wir in den nächsten zehn Jahren einen kleinen Splitter in Sachen Fortschritt verbuchen können. Ich glaube nicht, dass ich es selber erleben werde, dass Technologie wirklich für jeden gleichermaßen nutzbar sein wird – vielleicht werden es meine Enkel eines Tages erleben können. Aber ich glaube, dass Universelles Design einen Fokus für Regierungen, die Wirtschaft und für die Zivilgesellschaft bilden muss. Wir wissen derzeit, wie einige Technologien für einige Personen wirken. Wir wissen aber nicht, wie alle Technologien nutzbar für alle Menschen zu jeder Zeit sind. Der Begriff “alle” ist dabei der herausforderndste Teil der Definition von Universellem Design. Und bei „alle“ denke ich nicht etwa nur an blinde Menschen oder andere Menschen mit Beeinträchtigungen, sondern beispielsweise auch an Menschen aus dem LGBTQ-Spektrum. In meiner Lehrtätigkeit unterrichte ich hunderte Menschen, vor allem junge Menschen und ich erlebe es immer wieder im ersten Semester: Wenn ich von Universellem Design spreche, dann fangen ihre Augen an zu leuchten und ich sehe förmlich, wie die Glühbirnen in ihren Köpfen zu strahlen beginnen. Die Idee von Universellem Design kann also dabei mithelfen, mehr Jobs, mehr Gerechtigkeit, mehr Inklusion und mehr gesellschaftliche Gleichheit weltweit zu schaffen.

BODYS: Vielen Dank, Anthony! Und viel Erfolg für Ihre Arbeit!

Interview, Bearbeitung und Übersetzung: H.-Günter Heiden

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